Ikigai – Die Kunst zu Leben, aus dem Land der aufgehenden Sonne.

Ein Handwerk bis zur Meisterschaft

Die Eigenschaften eines Volkes werden in bestimmten Begriffen seiner Sprache kodiert. Ikigai ist ein japanischer Begriff, der kurz mit Iki (`Leben´) und gai (`Sinn´) übersetzt wird. Er hat Anklang gefunden in westlichen Coaching Strategien und wird hier oft als ein schnell umsetzbares Modell verbildlicht. Dabei ist es ein über Jahrhunderte tradiertes japanisches Lebenskonzept, welches sehr weit in das menschliche Dasein hinein reicht. Ikigai ist nichts Geringeres als der Grund eines Menschen, morgens aufzustehen.

Ikigai ist ein demokratisches Konzept, durchdrungen von der Freude an der Vielfalt des Lebens. Erfolg ist keine notwendige Bedingung für Ikigai, denn es kann außerhalb des beruflichen Kontextes gefunden werden. Jeder darf die Freuden am Leben für sich entdecken, definieren und schätzen. So ist diese Lebenskunst für jeden Menschen zugänglich. Der spezielle Wert, der den selbst erwählten Aufgaben zukommt, muss von niemand anderem geteilt werden.

Sukiyabashi Jiro gilt als das berühmteste Sushi Restaurant in Tokyo. Es hat heute Weltruhm erlangt. Bis es so weit gekommen war, musste Sushi-Meister Jiro Ono sich viele Jahre selbst ermutigen, die monotonen und zeitraubenden Einzelschritte bis zum Erfolg seines Restaurants zu gehen. Er brauchte Geduld in einer Zeit, in der er von der Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommen wurde. Eines Tages erntete er Ruhm und die Befriedigung, etwas von seinem Anfang bis zu seinem Ende erschaffen zu haben. Sushi wurde während der Edo-Zeit im 17. Jahrhundert als Straßenimbiss verkauft. Jiro Ono avancierte Sushi zur Spitzengastronomie.

Handwerker werden in Japan hochgeschätzt, weil sie geduldig und weitsichtig handeln. Sie sind nicht geschwätzig und extravagant. Ihre Tätigkeit basiert auf Kodowari, was mit »Engagement und Beharrlichkeit« übersetzt werden kann. Kodowari ist ein persönlicher Standard, ein Niveau der Qualität und Professionalität. Kodowari heißt auch stolz auf die eigene Beschäftigung zu sein. Es beinhaltet die Bereitschaft klein anzufangen und das was man tut bis zur Meisterschaft zu bringen.

Der Wert der Welt

Die jüdische Philosophin Hannah Arendt, die in der deutschen Sprache zu Hause ist, spricht in dem berühmten Interview mit Günter Gaus von einer Gemeinschaft, die sich auf einem praktischen Leben aufbaut. In ihrem Werk Vita Activa oder Vom tätigen Leben beschreibt sie, wie alles Lebendige im Kreislauf des Lebens schwingt. Ein Mensch der allein im bloßen Arbeits- und Konsumvorgang sein Vergnügen findet, ohne fähig zu sein dem einen persönlichen Sinn und eine Bedeutung zu schenken, verliert jedoch den Bezug zur Welt. Wenn Menschen nichts mehr daran liegt, wie die Welt um sie herum aussieht, sind sie auf das rein Biologische und auf das Ego zurückgeworfen. Sobald Konsumieren an die Stelle von relevanten Tätigkeiten tritt, beginnen wir uns verlassen und leer zu fühlen. Eine Welt hingegen, die ein Raum ist in dem man wohnt, weil sie wohlbedacht gestaltet ist, in der auch Kunst erscheint, in der alles möglich erscheint, ist eine Welt die den Menschen angemessen ist.

Wie in Hanna Arendts Vita Activa geht es beim Ikigai im Kern darum, ob das Individuum in der Lage ist ein glückliches und aktives Leben aufbauen zu können. Ikigai ist eine Lebensperspektive, um die herum sich verschiedenen Denk- und Verhaltensweisen organisieren.

Ikigai ist eine Entscheidung für einen Lebensstil der in (Selbst-) Respekt und Verbundenheit zur Welt begründet liegt. Es ist bekannt, dass in Japan die fittesten und ältesten Menschen leben. Laut der Osaki-Studie, in der Daten von 50.000 Menschen analysiert wurden, waren diejenigen die kein Ikigai Gefühl entwickelt haben mit höherer Wahrscheinlichkeit unverheiratet, arbeitslos, weniger gut ausgebildet, stärker mental gestresst und hatten eingeschränktere Körperfunktionen.

Als Hannah Arendt in dem Interview gefragt wurde, wie stark ausgeprägt ihr Interesse an der Wirkung ihres Denkens und ihrer Texte sei, erwidert sie, dass dies eine sehr männliche Frage sei: »Männer wollen immer furchtbar gern wirken.« Hannah aber wollte verstehen und wurde gerade durch diesen Prozess zu einer lebensnahen und zur aktuellsten Denkerin ihrer Zeit.

Für mich steckt darin die ganz basale und simple Weisheit, dass vor einem wirklichen Erfolg, die Phänomene, die man sich zur Aufgabe macht, sehr genau verstanden werden müssen. Beim Ikigai wird ein Augenmerk auf kleine Details gelegt und das genaue Verstehen der eigenen Tätigkeit kann immer feiner ausdifferenziert werden.

Im Reich der kleinen Dinge

Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge, in dem eine zeitlose und genaue Wahrnehmung kultiviert wird. Alles kann dabei wichtig werden. Die Farbe eines grünen Grashalms der sich im Wind bewegt, die schillernden Flügelbewegungen eines Zitronenfalters, das kalligrafische Zerfasern eines Tintentropfens, der in ein Glas Wasser fällt.

Ein Pianist berichtete mir neulich, wie in den letzten Jahren die Frustrationsgrenze seiner Schüler:innen gegenüber den eigenen Voraussetzungen ein Instrument zu lernen extrem gesunken sei. Wir haben ein Wertesystem verinnerlicht, welches das rechtfertig, was schnell zu konkreten Erfolgen führt. Dem Geschick einer minimalistischen Setzung wird manchmal wenig Beachtung geschenkt. Für das Beherrschen eines Instruments muss gelernt werden, jeden Ton einzeln ganz bewusst anschlagen zu können. Durch die Bewegung, mit der der Körper auf das Instrument einwirkt, entfaltet sich der Klang und damit der Charakter der Musik. Das braucht Konzentration, die oft als mühevoll erlebt wird. Mit der Perspektive des Ikigai kann das Sich-Anstrengen nun aber zur Hautglücksquelle werden und das gerade dann, wenn niemand zusieht.

Unser Geist handelt dabei wie ein geschickter Innenausstatter, der präzise und mit Argusaugen ein Objekt in einen Raum stellt, sodass Raum und Objekt in eine ausgewogene Kommunikation treten.

Erst dann, wenn der Übende nicht die unmittelbare Belohnung sucht und kein Bedürfnis nach sofortiger Anerkennung verspürt, kann er sich ganz auf den Prozess einlassen. Im bekannten Prinzip des Flow arbeitet man nicht um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern die Gesamtheit der unendlichen vielen Nuancen einer Tätigkeit ist das Wichtige. Flow stellt sich auf dem Seiltanz zwischen Disziplin und Loslassen ein, zu dem eine gute Bezahlung bestenfalls on top kommt.

Ein Leben aus Handwerk und Magie

In Japan wird das vergängliche Leben ernst genommen. Im-Hier-und-Jetzt-Sein ist vielleicht die tiefgründigste Eigenschaft des Ikigai. Eine Wahrnehmung die auf die Schönheit des Lebens im Hier-und-Jetzt basiert, bedarf zahlreicher Erfahrungsabstufungen und einer Vielzahl von Sinneswahrnehmungen. Sie ist im ästhetischen Prinzip des Wabi Sabi zu erkennen, welches den Liebreiz im Verfall, in Asymmetrie, im Flüchtigen und den einzigartigen Wert einer vorübergehenden Begegnung anerkennt. Die philosophische Dimension liegt in der Umarmung der Impermanenz und Unvollkommenheit aller Dinge. Seinen haptischen Ausdruck findet Wabi Sabi beispielsweise im Töpferhandwerk.

Unter Kennern antiken Porzellans in Japan heißt es manchmal, unbewusstes Schaffen produziere die größten Meisterstücke. Zu ihnen gehören die Yohen Tenmoku Teeschalen. Yohen ist der Verwandlungsvorgang beim Brennen der Keramik im Ofen. Die drei jahrhundertalten erhaltenen originalen Teeschalen, zeigen ein an Sterne erinnerndes Muster aus Dunkelblau, Violett und anderen Farben. Wie eine leuchtende Galaxis im schwarzen Raum des Universums. Diese Sternenschalen sind als Nationalschätze Japans registriert. Den alchimistischen Transformationsprozess können Kunsthandwerker weder vollständig nachvollziehen noch kontrollieren. Sie entstehen nahezu zufällig. Die Wahrscheinlichkeit eine Sternenschale zu produzieren, liegt bei weniger als 1 zu 10000. Es heißt, dass die modernen Reproduktionsversuche die gelassene Schönheit der antiken Schalen nicht erreichen.

Wir töpfern und töpfern in unserem Leben, es entstehen viele schöne und nützliche Gefäße, aber ob eine Sternenschale daraus hervorgeht, liegt nicht ganz allein in unseren Händen.

Es ist dabei auch immer ein kleines bisschen Magie im Spiel.