Wahrnehmung plus – Wie Yoga deine Sinne schärft

Halte für einen Moment inne und richte deine Aufmerksamkeit auf das, was du siehst. Zeichenfolgen, das Flimmern eines Bildschirms? Achte nun darauf, welche Farben und Formen du außerhalb deines direkten Blickfeldes mit deiner peripheren Sicht wahrnimmst. Riechst du etwas Bestimmtes? Welche Geräusche hörst du? Hörst du dich selbst? Deinen Atem? Richte deine Aufmerksamkeit nun auf die Fläche, auf der du sitzt, die Berührung der Kleidung mit deinem Körper, die Berührung der Luft auf deiner Haut. Schmeckst du noch den letzten Schluck Kaffee im Mund? Etwas anderes?

Der direkteste Weg, sich mit dem Moment, deinem Körper, deiner Wahrnehmung zu verbinden, führt über die Sinne. Es ist – mit ein bisschen Übung – übrigens auch einer der besten Wege, kurz vor einem Tobsuchtsanfall im Straßenverkehr doch noch Haltung zu wahren oder, wenn man sich in Zukunftsängsten verliert, wieder ein wenig Boden unter den Füßen zu bekommen. Zu Sinnen kommen. Bei Sinnen zu sein.

Nur, wie viel Sinne haben wir eigentlich?

Die einfache Antwort lautet oft »fünf«: Riechen, Schmecken, Hören, Sehen, Fühlen (Tastsinn).
Die Wahrheit ist nur: Das stimmt nicht. Nicht einmal annähernd. Genau genommen bilden diese fünf nur eine Gruppe unserer Sinne ab. Die der Exterozeption, unserer Außenwahrnehmung also.

Exterozeption – die Außenwahrnehmung

Die Welt um uns herum ändert sich ständig, weswegen es wichtig ist – manchmal sogar existenziell – diese Informationen schnell aufnehmen und verarbeiten zu können. Die Rezeptoren für diese Sinne, unsere Exterozeptoren also, sitzen dicht an der Oberfläche unseres Körpers. Vereinfacht ausgedrückt sind die Leitbahnen, die diese Reize an unser Nervensystem weiterleiten, vergleichbar mit Highspeedkabeln für schnelles und stabiles Internet.

Die Wahrheit ist aber auch: Ohne einen guten Sinnesfilter, der Wichtiges von Unwichtigem trennt, währen wir nie in der Lage, uns auf irgendetwas zu konzentrieren.

Unsere Wahrnehmung der Welt da draußen ist nur in soweit vollständig, wie es den menschlichen Sinnen möglich ist, sie wahrzunehmen. Für Bienen, Hunde und Wale zum Beispiel stellt sich dieselbe Welt anders dar, da ihr Wahrnehmungsspektrum ein anderes ist (man denke nur an die Hundepfeife).

Gleichzeitig ist unsere Wahrnehmung auch unter Menschen hochindividuell. Nicht alle Sinne und alle Filter sind in uns auf die gleiche Weise ausgeprägt und so riecht und schmeckt die Welt für jeden von uns ein bisschen anders.

Interozeption – die Innenwahrnehmung

Sitz für einen Moment ganz still und schau, ob du deinen Herzschlag fühlen kannst. Spürst du die Bewegung deines Atems im Körper? Wenn ja, wo? Fühlst du das Weiten deines Körpers mit der Einatmung? Das sanfte Zusammenziehen um die eigene Mitte mit der Ausatmung? Gibt es Bereiche in deinem Körper, in denen du Spannung oder Enge wahrnimmst? Bereiche, in denen du Weite spürst?

Wenn du schon seit einer Weile Yoga praktiziert, übst du unweigerlich auch immer wieder deine Aufmerksamkeit auf eine weitere Sinnesgruppe zu lenken: die der Interozeption. Sie ist, in Kürze gesagt, das Gegenteil der Exterozeption: die Innenwahrnehmung.

Für die meisten Menschen ist es wesentlich schwieriger, die eigene Aufmerksamkeit auf diese Weise nach innen zu lenken, da die exterozeptiven Sinne ungleich dominanter sind. Die Nervenzellen der Interozeptoren sind bedeutend kleiner und langsamer als die der großen Schwester Exterozeption. Meist filtert unser Gehirn all diese Empfindungen aus unserem Bewusstsein und lässt sie uns erst dann wahrnehmen, wenn etwas schiefläuft, wenn der Körper also die Homöostase / den »Sollzustand« verlässt und die Prozesse im Inneren aus dem Ruder geraten. Oder aber wenn wir bewusst hinspüren.

Genauso wie die Außenwahrnehmung kann auch die Innenwahrnehmung in verschiedene Sinne unterteilt werden, die Botschaften an die Schaltzentrale, also das Gehirn senden.

Interessant ist dabei zu wissen, dass, je mehr die Wissenschaft sich vorwärts bewegt, umso klarer wird, wie veraltet das Bild eines Hirns ist, welches sehr dominant Informationen und Befehle an den Körper verteilt, während dieser nur gehorcht. Unser Gehirn empfängt weitaus mehr Informationen von unseren Organen, als es an diese sendet.

In Kürze sei gesagt: Wichtige Interozeptoren finden sich in Herz, Lunge, Vagus Nerv, Darm, Haut und dem Fasziennetz, welches uns durchzieht.

Es lohnt sich, für einen Moment bei unseren Faszien zu verweilen und zu verstehen, dass sich diese wie ein dreidimensionales Netz durch unseren Körper spannen, sowohl Organe als auch Muskeln und Knochen umhüllen und auch die entlegensten Teile unseres Körpers miteinander verbinden. Kein Körperteil bewegt sich in perfekter Isolation, alles ist verbunden. Faszien sind einer der Gründe, wieso eine Disbalance in der Hüfte plötzlich zu Schulterschmerzen führen kann und andersherum.

Unser Fasziennetz ist gleichzeitig das größte Sinnesorgan im menschlichen Körper, größer noch als die Haut. 80-90 Prozent der Nervenendigungen in den Faszien, die unsere Muskeln umgeben, kommunizieren direkt mit unserem autonomen Nervensystem, welches beispielsweise den „Fight-Flight-Freeze-Response“ steuert. Das erklärt, wieso emotionale Krisen körperliche Spuren hinterlassen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Rückenschmerzen, die auftreten, wenn wir auf emotionaler Ebene schwer zu tragen haben.

Yoga, allen voran Yin Yoga, ist einer der Wege, wie wir Kontakt aufnehmen können mit unserem Fasziennetz und dafür Sorge tragen können, dass es ein glückliches Sinnesorgan wird und bleibt.

Propriozeption – die Tiefensensibilität

Finde wieder für einen Moment in die Stille und beschreibe mit deinem Arm Formen vor dich in den Raum, denen du mit deinem Blick folgst. Schließe nun die Augen und führe die Bewegung fort. Weißt du, wo sich dein Arm im Raum befindet, auch wenn du ihn nicht siehst? Weißt du, in welche Richtung dein Kopf geneigt ist, oder ob er gerade auf deiner Halswirbelsäule sitzt? Wo sich dein linker Fuß befindet?

Das ist Propriozeption, auch Tiefensensibilität genannt. Es ist das innere Wissen um die Position des eigenen Körpers im Raum und dem Verhältnis und der Entfernung der einzelnen Gelenke und Gliedmaßen zueinander. In Sportlern und Tänzern z. B. ist dieser Sinn notwendigerweise stark ausgeprägt. Aber auch für ganz alltägliche Dinge wie beispielsweise die Fähigkeit, Wasser aus einem Glas zu trinken, ohne sich den Inhalt stattdessen über das T-Shirt zu schütten oder auf dem Fahrrad eine Kurve zu navigieren, ist Propriozeption unerlässlich, wenn auch manchmal unzuverlässig (die Autorin ist Tänzerin und hat in beiden Disziplinen bereits mehrmals versagt).

Auch hier gibt es unterschiedliche Sinnesorgane oder Systeme, die teils in den Faszien, teils in den Muskeln, teils in den Gelenken zu finden sind: Golgi-Sehnenorgane, Muskelspindeln und Gelenksensoren erspüren für uns Lage, Kraftaufwendung und Bewegung unseres Körpers.

Auch hier passiert das meiste wieder, ohne dass wir etwas davon bemerken. Aber wir können uns das Wissen um diese Sinne im Yoga zunutze machen.

So erspüren die Muskelspindeln beispielsweise die Spannung unserer Skelettmuskulatur und reagieren – wenn ein zu plötzlicher Dehnreiz erfolgt – mit einem Alarmsignal ans Gehirn, welches wiederum die Kontraktion des Muskels auslöst. Das ist einer der Gründe, wieso das langsame Herantasten an die Tiefe einer Asana so sinnvoll ist. Diese Achtsamkeit der Bewegung kommuniziert unserem Körper, dass er in Sicherheit ist und gibt uns so – auch unter Zuhilfenahme unseres Atems – die Möglichkeit über ein Zwiegespräch mit dem eigenen Körper neue Räume und Beweglichkeit zu finden.

Die Tiefensensibilität hat aber auch eine emotionale Komponente.

Setz dich mit eingefallenen Schultern, hängendem Kopf und gerundetem Rücken hin, ziehe am besten die Mundwinkel nach unten und lass deine Arme schlaff neben den Körper sinken. Sage nun die Worte „Ich fühle mich wunderbar!“

Stimmt nicht ganz? Aus der Haltung unseres Körpers erfahren wir etwas über unser emotionales Innenleben. Schauspieler wissen das und machen es sich zunutze, denn dieses Prinzip funktioniert nicht nur von innen nach außen, sondern auch andersherum: Die Haltung unseres Körpers beeinflusst unsere emotionale Welt.

Im Yoga hast du das vielleicht schon erfahren, wenn du Rückbeugen oder sogenannte Herzöffner übst. Die Öffnung deiner Vorderseite aktiviert und kann dich in Verbindung mit deiner eigene Wirkkraft, deinem Selbstbewusstsein bringen, während Vorbeugen wie Paschimottanasana oder die Kindsposition oft schützend, introspektiv, beruhigend wirken. Gleichzeitig berühren sie manchmal etwas in uns, was uns emotional aus dem Tritt bringt und uns vielleicht verunsichert wenn wir nicht verstehen, dass unser Körper nicht getrennt von unserer inneren Welt existiert.

Der Gleichgewichtssinn oder: Wie unsere Sinne zusammenarbeiten

Zu guter Letzt ist die Propriozeption auch an unserem Gleichgewichtssinn beteiligt. An diesem Beispiel erkennt man gut, wieso nicht alle unsere Sinne trennscharf von anderen zu betrachten sind: Um unsere Balance zu halten, bedienen wir uns gleich mehrerer Sinne und Systeme: Dem Sehen, der Propriozeption und dem vestibulären System im Innenohr. Im Hirnstamm wird dann aus diesen Informationen unsere derzeitige Lage »errechnet« und gegebenenfalls korrigiert. Auch dies geschieht bei alltäglichen Bewegungen von uns meist unbemerkt, außer die Kommunikation dieser Sinne ist beispielsweise durch übermäßigen Schnapskonsum oder eine Innenohrentzündung in Mitleidenschaft gezogen. Dann kann es schon mal passieren, dass die Berechnung nicht ganz aufgeht, weswegen es uns auffällt.

Nicht alle Sinne sind in uns allen gleich stark ausgeprägt, manche lassen mit dem Alter nach und manchmal übernehmen andere Sinne die Aufgabe eines Sinns, der uns von Geburt an fehlt oder uns im Lauf des Lebens abhanden gekommen ist.

Trotzdem können wir unsere Sinne schärfen, indem wir ihnen Aufmerksamkeit schenken.

Unsere Sinne sind damit das Tor zu einer verkörperten Wahrnehmung von uns selbst. Fernab unseres Faktenwissens über die eigene Biografie, der Glaubenssätze die wir über uns selber haben, fernab von Leistung und Erfolgen, fernab von Ängsten die die Zukunft betreffen.

Wer bin ich jetzt? Was berührt mich? Was bewegt mich? So wichtig unsere Kognition, unsere Erinnerung, unsere Fähigkeit in die Zukunft zu projizieren auch sind: Unser Körper ist einer der schlauesten und spannendsten Gesprächspartner, wenn es darum geht, herauszufinden, wer wir sind.

In den Worten von Anaïs Nin:

“Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind,
wir sehen sie so, wie wir sind.”

Yoga ist eine Einladung an unsere Sinne, miteinander zu kommunizieren und eine Gelegenheit für uns, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und uns mit dem wackeligen, sich ständig ändernden JETZT zu verbinden.

In diesem Sinne: Yoga your senses!

Unser Tipp: Süße Ruh