Innere und Äußere Balance – Alles eine Frage der Haltung?

Haltung

Gesundheit – Wohlbefinden – Gleichgewicht – Seelische Ausgeglichenheit – Ausstrahlung – Beweglichkeit – Präsenz – Selbstbewusstsein – Lebensfreude. Dies sind Antworten von Teilnehmer:innen eines meiner Seminare auf die Frage »Wofür brauche ich eine gute Haltung?«

Im Yoga gibt es eine große Anzahl von Yogahaltungen, deren Ausführung, Stabilität und Wohlbefinden miteinander vereinen und der Harmonisierung von Körper und Geist dienen. In unserem täglichen Leben brauchen wir sowohl physische als auch mentale Stabilität. Gleichzeitig müssen wir uns und unsere Bewegungen konstant an unsere Umwelt anpassen (⇒ Resilienz – Von der Fähigkeit wieder aufzustehen). Was ist in diesem Zusammenhang eine »gute« Haltung? Dieser Frage möchte ich in diesem Text nachgehen.

Unser Körper ist ein flexibles System aus verschiedenen Strukturen. Es gibt in unserem Organismus praktisch keine gerade Linie, dennoch können wir uns entlang einer geraden Linie aufrichten.  Durch die Schwerkraft befinden wir uns immer in einem »Trainingsraum«. Die Art und Weise wie wir uns in Bezug auf die Schwerkraft ausrichten, prägt unsere Körperhaltung und die Art und Weise wie wir uns bewegen. In der vertikalen Körperausrichtung kann ich mir Kopf, Oberkörper und Becken als individuelle Gewichte vorzustellen und diese so ausbalancieren, dass deren Gewichtszentren in einer vertikalen Linie übereinander ausgerichtet sind. Dies stellt sicher, dass keine Struktur einer übermäßigen Belastung ausgesetzt wird. Wenn wir zum Beispiel etwas Schweres anheben oder tragen, tun wir dies möglichst nahe an unserem Körper und nicht mit lang ausgestreckten Armen. Wenn die Körperausrichtung mit lokalen Spannungen verbunden ist, haben wir keine ausgewogene Haltung.

Eine kurze Übung…

Du kannst die Gelegenheit nutzen, um für eine kurze Wahrnehmungsübung vom Stuhl aufzustehen:
1. Spüre wie das Gewicht durch Deine Fußsohlen auf den Boden trifft. Nimmst Du mehr Gewicht auf dem Fußballen, den Fersen, Innen-  oder Außenseite der Füße wahr? Gibt es einen Unterschied zwischen Deinem rechtem und linkem Fuß?
2. Wenn Du nun Dein Gewicht nach hinten auf die Fersen verlagerst, spürst Du vielleicht, wie sich die Muskeln auf der Vorderseite Deines Körpers etwas anspannen, um zu verhindern, dass Du nach hinten fällst.
3. Kannst Du, wenn Du nun Dein Gewicht auf Deine Fußballen verlagerst, die Anspannung der Zehen, Waden und Gesäßmuskeln wahrnehmen?
4. Spiele nun ein wenig mit Deinem Gewicht und Deiner Balance. Wo ist Deine Mitte – der Bereich, in dem Du Dich zentriert fühlst? Wann spürst Du Dein Körpergewicht gleichmäßig verteilt zwischen Fersen und Fußballen, gleichermaßen unterstützt durch Vorder- und Rückseite Deines Körpers? Vielleicht brauchen nun die Muskeln in den Füßen, Fußgelenken und Waden weniger arbeiten. Je zentrierter Deine Körperausrichtung ist, desto weniger lokale Anspannung ist notwendig.
5. Beuge und strecken nun beide Beine und nimm wahr, ob ein Bein mehr Gewicht trägt, als das andere. Verlagert sich Dein Gewicht beim Beugen und/oder Strecken der Beine mehr zur einen oder anderen Seite? Wenn Du mit beiden Füßen jeweils auf einer Wage stehen würdest, welche der beiden würde mehr Gewicht registrieren- oder würden beide das gleiche anzeigen? Was braucht es, um das Gewicht zentriert zu balancieren?

Gedanken zur Symmetrie unseres Körpers

Symmetrie kann in Bezug auf den menschlichen Körper ein nützliches Konzept sein, so lange es als Orientierung dient und nicht als Ziel, dass es um jeden Preis zu erreichen gilt. Ober- und Unterkörper, Vorder- und Rückseite unseres Körpers sind nicht symmetrisch und auch im Inneren unseres Organismus finden wir keine Symmetrie. Die einzige mögliche Symmetrie, der wir vielleicht etwas näher kommen, ist die der rechten und linken Körperhälfte – dadurch dass unsere Augen, Ohren, Arme und Beine rechts und links paarweise angeordnet sind.
Um in der Bewegung in Balance zu bleiben, braucht es eine Ausgewogenheit beider Körperhälften. Die Körperhälften müssen dafür jedoch nicht gleich aussehen oder sich auf gleicher Höhe befinden, doch sie sollten miteinander kommunizieren und Belastung teilen. Falls eine Seite immer mehr Gewicht trägt als die andere, könnte es sein, dass sich unser Sinn für die Mitte unseres Körpers zur aktiveren Seite hin verlagert.

Körperausrichtung und Eigenwahrnehmung

Haltung oder Körperausrichtung beziehen sich nicht nur auf unseren physischen Körper, wie die Anordnung der Körperschwerpunkte in Bezug aufeinander, sondern beinhaltet auch neurologische Aspekte, also die Fähigkeit unseres Nervensystems uns in einer sich konstant bewegenden Umgebung aufrecht und in Balance zu halten. Auch emotionale und psychologische Faktoren spielen eine Rolle. Wir sitzen, stehen, gehen, und bewegen uns unterschiedlich, je nachdem ob wir uns niedergeschlagen, gestresst, ausgeglichen oder glücklich fühlen.
Körperausrichtung ist also dynamisch und darüber hinaus nicht von unserer Eigenwahrnehmung zu trennen. Wir haben einen Sinn für unsere Körpergröße, für Volumen und Gestalt, die Erfahrungen unserer Körpergrenzen, unser Gespür für Gewicht und Spannungszustände und unser Bewegungs- und Gleichgewichtssinn (⇒ Wahrnehmung Plus – Wie Yoga deine Sinne schärft ).
Allerdings ist die Art und Weise wie wir uns wahrnehmen zutiefst subjektiv. Wer kennt das nicht, an einem Tag fühlen wir uns leicht wie eine Feder, am anderen bleischwer; wir haben Bärenkräfte oder fühlen uns schlapp wie ein nasser Lappen. Weder Gewicht noch Muskelkraft haben sich innerhalb einiger Stunden oder Tage verändert – aber das Gefühl für diese.

Körperausrichtung als Prozess

Unser Nervensystem ist einerseits flexibel, andererseits sucht es nach bekannten Mustern, gibt nicht alle Sinneseindrücke weiter, sondern interpretiert Information auf der Grundlage früherer Erfahrungen und setzt sie dann zu einem Bild zusammen, das für uns in der jeweiligen Situation Sinn ergibt. Dies geschieht meist auf unbewusster Ebene.
Die angeborene Flexibilität des menschlichen Nervensystems ermöglicht es uns auf Herausforderungen unserer Umgebung zu reagieren. Doch um diese Flexibilität in der jeweiligen Situation zu unterstützen braucht es Übung.

Bis zu einem gewissen Punkt können wir unsere Muskeln und Knochen stärken, doch diese Form des Krafttrainings ist nutzlos, wenn wir die Beziehung zur Schwerkraft außer Acht lassen. Durch die Verfeinerung unserer Eigenwahrnehmung, das dynamische Spiel mit der Balance und die Arbeit mit unserer Vorstellungskraft (⇒ Franklin Methode) können wir unbewusste Haltungsmuster erkennen und verändern.

Kulturelle Aspekte

Neben den unbewussten Aspekten der Körperhaltung spielen auch Ansichten und Einstellungen, die wir in Bezug auf uns und unsere Körperhaltung haben eine Rolle. Diese lassen sich nicht losgelöst von gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten betrachten. Zum Beispiel beinhaltet der deutsche Begriff »Haltung« das Verb »halten« und könnte mit »sich nicht bewegen« assoziiert werden. Das angelsächsische Wort »alignment« bezeichnet ein Arrangement entlang einer geraden Linie. Im asiatischen Theater wird Haltung als erster Ausdruck von Bewegung aufgefasst. Als intendierte und vorgestellte Bewegung ist Haltung dynamisch und fokussiert die Präsenz potentieller Möglichkeiten.

Das Yogasutra von Patanjali, (einer der ältesten überlieferten Texte des Yoga) beschreibt die Körperhaltungen (Asanas) als fest, stabil und gleichzeitig durchlässig und bequem. Mit Asana können sowohl der Meditationssitz als auch einzelne Yoga Positionen gemeint sein. Haltung im Yoga beinhaltet also die Verbindung innerer und äußerer Prozesse, durch die eine körperliche Erfahrung des zur Ruhe Kommens und ein Gespür für die eigene Mitte wahrnehmbar werden.

Wenn wir von Körperhaltung sprechen geht es anstelle einer geometrischen Organisation nach einem visuellen Ideal, vielleicht eher um die Entwicklung eines feinen Gespürs für Bewegungsoptionen, welches es uns erlaubt unsere innere und äußere Balance mit Gelassenheit immer wieder herzustellen.