Tensegrität – Einsichten in die Architektur unseres Körpers

Verspannt – was heißt das eigentlich und was meinen wir genau wenn wir uns entspannt fühlen?

Gespannt wie ein Flitzebogen – In den Seilen hängend – Verspannte Muskeln – „Coach potato“.  Gespannt auf das was jetzt kommt? Ein gewisses Maß an Spannung lässt uns aufmerksam sein und auch auf körperlicher Ebene sind wir dann bereit, Kräfte die auf uns und unsere Körper einwirken, elastisch aufzufangen. Zuviel Spannung dagegen macht eher unbeweglich und überdeckt oft auch unsere Sinneswahrnehmung. Wenn wir uns zu sehr anspannen um ein äußeres Ziel zu erreichen, sind wir viel anfälliger für Verletzungen, da wir uns nicht mehr so gut wahrnehmen wie in einem wach-entspanntem Zustand.

Dies erscheint mir ein guter Zeitpunkt um einen Moment innezuhalten.
Wie fühlt sich Dein Körper gerade jetzt an? Gibt es Bereiche, die Du gut spüren kannst und Bereiche, die Deiner Wahrnehmung eher entschwinden? Wie ist die Qualität Deines Kontaktes zur Sitzfläche Deines Stuhls, zum Tisch oder Stuhl oder/und Deinem Körper? Gibt es irgendwelche Bereich in Deinem Körper, die sich verspannt anfühlen – andere Bereich die eher durchhängen, zu schlaff erscheinen? Wo in Deinem Körper spürst Du Raum, Weite, Volumen; Energie und wo Enge wo Trägheit? Wie frei kann Dein Atem fließen? Gibt es etwas, das Du verändern kannst, um Dich wohler zu fühlen?

Kräfte die auf einen Körper einwirken sind Druck und Zug. Das Wechselspiel dieser beiden Kräfte sorgt für eine Grundspannung in unserem Körper. Diese ist immer da, auch wenn wir sie nicht bewußt wahrnehmen können z.B. weil wir schlafen. Mal ist diese Spannung höher, mal niedriger und auch in verschiedenen Bereichen unseres Körpers finden wir einen unterschiedlichen Tonus.

Tensegrität

Im Gegensatz zu einem Gebäude ist der menschliche Körper für Bewegung konstruiert. Die Wand eines Backsteinhauses ist ein typisches Beispiel dafür, wie Druck kontinuierlich von einem Stein zum anderen bis zum Boden weitergegeben wird. Ein solides Fundament sorgt für Stabilität. Diese Konstruktion ist meist recht schwer und unbeweglich und würde auch in einer Umkehrhaltung nicht funktionieren. Aber auch in der Architektur finden wir flexible Konstruktionen z.B. hohe Gebäude oder Brücken, die Kräfte über Stahlseile elastischer abfangen.

Der amerikanische Architekt, Philosoph und Ingenieur Richard Buckminster Fuller kombinierte die beiden Begriffe tension (Spannung) und integrity (Zusammenhalt, Ganzheit) zu tensegrity (Tensegrität) und beschrieb damit architektonische Konstruktionen, welche durch Spannungselemente ihren Zusammenhalt erfahren. Zug und Druck sind keine Gegensätze sondern sich ergänzende Polaritäten, die immer gemeinsam auftauchen. Tensegritätsstrukturen sind im Gegensatz zu einem Trampolin oder einer Hängebrücke selbsttragend und damit unabhängig.
Innerhalb eines Tensegritätssystems gibt es feste, sogenannte Kompressionselemente. Diese schaffen Raum, während die Zugelemente zusammenziehen. Zwischen den festen Elementen besteht kein direkter Kontakt. Sie treiben wie Inseln in einem System kontinuierlicher Spannung. Wenn Kraft auf dieses Gebilde einwirkt, wird sie auf das Netzwerk aus Zugelementen verteilt. Die Struktur reagiert dynamisch. Stabilität und Mobilität können so miteinander verbunden werden.

Bio-Tensegrität

Dieses architektonische Prinzip kommt in allen organischen Strukturen vor und eröffnet uns einen alternativen Blick auf die Körperarchitektur, sowie ein neues Verständnis für unseren Körper in Bewegung. Es kehrt die Vorstellung vom Skelett als tragende Struktur um. Unsere Wirbelsäule ist nicht wie eine Steinmauer konstruiert, wie ihr in der Yogapraxis im „herabschauenden Hund“ vielleicht schon einmal realisiert habt.
Die Knochen können als raumschaffende Elemente betrachtet werden, die unseren Körper davor bewahren in sich zusammen zu fallen, die Faszien als Zugstrukturen, die dafür sorgen dass die Knochen sich in einem bestimmten Verhältnis zueinander befinden. Darüber hinaus sorgen sie für Raum in euren Gelenken und dafür, dass in der Bewegung nicht alle Organe in eurem Körper durcheinander purzeln.

Tensegritätsstrukturen sind elastisch und in hohen Maße anpassungsfähig. Jede Veränderung im faszialen Zugsystem hat direkt Auswirkungen auf die knöcherne Struktur. Auf unseren Körper einwirkende Kräfte werden in erster Linie über unsere Faszien und Muskeln weitergeleitet. Druck wird in Zugkraft umgewandelt, auf unseren ganzen Körper verteilt und dynamisch aufgefangen. Dabei übernehmen die Faszien einen Großteil der Gewichtsverteilung.

Energiespeicher

Sobald wir unsere Position ändern wird Spannung freigesetzt. Wir können mühelos in unseren ursprünglichen Zustand zurückkehren oder die Bewegungsenergie für eine nächste Bewegung nutzen. Im Gegensatz zur Muskelaktivität verbrauchen Faszien dafür keine zusätzliche Energie. Sie fungieren als Energiespeicher. Gemeinhin werden Muskeln als der Motor der Bewegung betrachtet. Tatsächlich begleiten sie unsere Bewegungen dadurch, dass sie die Faszienspannung variieren. Eine ausgeglichene Spannung sorgt für eine dynamische Körperausrichtung (siehe innere und äußere Haltung) und Widerstandsfähigkeit. Dazu gehören Gelenkzentrierung, balancierte Muskelaktivität und ein Gleichgewicht im faszialen Netzwerk.

Sinnesorgan

Mit seinen Millionen von verschiedensten Rezeptoren (siehe Wahrnehmung plus) bilden die Faszien das größte Sinnesorgan unseres Körpers. Über dieses Kommunikations- und Verbindungsnetzwerk erhalten wir ununterbrochen Informationen über Spannungszustand und Lage oder Position im Raum. Dabei kommuniziert das Gewebe ohne den Umweg über das Gehirn. Jede Nuance einer Gewichtsverlagerung wird registriert und über das Bindegewebe wahrgenommen. Unser ganzer Körper reagiert blitzschnell – in der Geschwindigkeit in der Schall übertragen wird – und verteilt die Belastung neu.
Aber auch Gewohnheiten in Haltung und Bewegung hinterlassen längerfristig ihre Spuren. Sie haben einen Einfluss auf das harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Körperstrukturen.

Wer sich schon einmal verletzt hat weiß wie sich der ganze Körper, in dem Bestreben fehlende Beweglichkeit auszugleichen oder/und Schmerzen zu vermeiden, an die Situation anpasst. Vielleicht habt ihr auch erlebt, dass sich diese Anpassungen verselbständigen. Dadurch entstandene Dysbalancen haben auch Einfluß auf unserer Eigenwahrnehmung – auch diese ist aus der Balance.

Die Praxis

Bio- Tensegrität lässt uns erkennen welchen Effekt eine Bewegung auf den ganzen Körper hat. Du kannst sie in Deiner Yoga Praxis anwenden indem Du zunächst ein Gespür für Zusammenhänge entwickelst. Die Arbeit mit der Vorstellungskraft (siehe Franklin Methode) kann Dich dabei unterstützen einen harmonischen Bewegungsfluss und Volumen innerhalb der Bewegung zu erlangen.

Hier ein Beispiel:
Stell Dir vor die Wirbel Deiner Wirbelsäule schwimmen wie Inseln in einem See aus Spannungselementen. Aufgespannt in einem Netz lassen sie Dich Deine Wirbelsäule als Ganzes erfahren. Beuge Dich nun in einem homogenen Bogen zu einer Seite, das Gewicht gleichmäßig über die gesamte Struktur verteilt.

Ein anderes Bild ist die Vorstellung der Endpunkte der Wirbelsäule, welche sich aufeinander zu bewegen. Oft entsteht dadurch jedoch Enge und Überbelastung an einer Stelle während andere Bereiche nicht an der Bewegung beteiligt zu sein scheinen.
Unsere fasziales System ist größtenteils spiralförmig angeordnet. Wenn Du nun die Bewegung nochmals wiederholst, mit dem Wissen um die doppelte S-Form der Wirbelsäule, merkst Du vielleicht, dass die Seitbeuge gleichzeitig auch Rotationen beinhaltet. Je nach Verlauf der Bögen (in Hals-, Brust-, und Lendenwirbelsäule) sind die Rotationsrichtungen gegenläufig. Die Brustwirbelsäule rotiert in die Richtung der Bewegung, die Hals- und Lendenwirbelsäule in die Gegenrichtung.
Was zunächst vielleicht hochkomplex klingen mag, kannst Du ganz einfach mit Deinen Händen unterstützen und dadurch spürbar werden lassen.

Lege Deine linke Hand auf Deinen Brustkorb und Deine rechte Hand auf Deinen Bauch. In der Tiefe befinden sich Brust- und Lendenwirbelsäule. Beuge Dich nun nach rechts während die linke obere Hand nach rechts und die rechte untere Hand nach links gleitet und damit die leichte Rotation der beiden Abschnitte der Wirbelsäule während der Seitbeuge unterstützen. Spüre den weiten homogenen Bogen der Bewegung.

Die Faszien bleiben aufgespannt, die Wirbel schaffen Raum und die Bewegung behält Volumen und Elastizität. Wenn Du dies einmal erfahren hast, kannst Du Dich innerhalb dieser Zugverbindungen entspannen. Entspannung ist also kein Kollabieren, sondern eine effektive Organisation von Spannung, welche eine Qualität von Raum, innerer Unterstützung und balancierter Kraft schafft.
Auf einem Symposium für Tanzmedizin traf ich die Physikerin und Bewegungsforscherin Danièle-Claude Martin. Sie hat diesen Zustand in einen, wie ich finde, wunderbaren Begriff gefasst: Wohlspannung.